Coventry City im FA Cup:Für 0,02 Sekunden im Abseits

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Sorry, Jungs, ihr wart ein starker Gegner: Manchesters Spieler (in Rot) machen sich nach dem Elfmeterschießen schnell davon. Vorher gratulieren sie noch dem Zweitligisten aus Coventry zu dessen famoser Leistung. (Foto: Glyn Kirk/AFP)

Zweitligist Coventry City steht gegen Manchester United vor einer der größten Sensationen der englischen Fußballgeschichte - und muss sich doch einer Entscheidung beugen, die so zufällig wirkt wie ein Münzwurf.

Von Sven Haist, London

Obwohl die Spieler von Manchester United gewonnen und das Finale im FA Cup erreicht hatten, sahen sie wie Verlierer aus. Und die Spieler von Coventry City glichen Gewinnern, obwohl sie verloren hatten. Nach dem Elfmeterschießen wandten sich die meisten Stars des Rekordmeisters sofort ihren Gegenspielern zu, gratulierten ihnen und würdigten ihre Leistung. Anschließend verabschiedeten sie sich ebenso zügig wie die eigenen Fans aus dem Wembley-Stadion und überließen den selten landesweit beachteten Profis des Zweitligisten die Bühne.

Der Coventry-Tross um Trainer Mark Robins, der mit Manchester United als Spieler einst den FA Cup geholt hatte, 1990, machte sich auf zu einer kaum endenden Ehrenrunde - begleitet von den Klängen des zu dieser Situation überaus passenden Klassikers "Country Roads" von US-Sänger John Denver. In dem Folk-Song geht es um das Zuhause, zu dem man sich hingezogen fühlt, sei es ein Ort oder ein Geisteszustand. Die Erinnerung daran dürfte allen Sympathisanten des Vereins Trost gespendet haben im "größten FA-Cup-Moment, den es nie gab", wie ihn die Zeitung Guardian bezeichnete - genauer gesagt gab es ihn schon, diesen Moment, aber nur für 90 Sekunden: So lang war das letztlich aberkannte Siegtor des Dänen Victor Torp gültig.

In den letzten 20 Minuten gleicht der Zweitligist ein 0:3 aus

In der Mutter und Großmutter aller englischen Pokalspiele führte Manchester United, der Favorit, standesgemäß 3:0. Die Treffer erzielten Scott McTominay (23. Minute), Harry Maguire (45.+1) und Bruno Fernandes (58.). Doch in der Schlussphase glich Coventry City, der Außenseiter, unverhofft und unglaublich zum 3:3 aus. Die Torschützen des epischen Comebacks heißen: Ellis Simms (71.), Callum O'Hare (79.) und Haji Wright (90.+5/Handelfmeter).

Während der Verlängerung war der Klassenunterschied zwischen dem Siebten der Premier League und dem Achten der Championship nicht mehr auszumachen. Bisweilen wirkte es, als würde nicht Coventry, sondern United um die Teilnahme an den Aufstiegs-Playoffs kämpfen. Der Zweitligist erspielte sich Chance um Chance, Wright schoss aus kurzer Distanz knapp am Tor vorbei, Simms traf die Unterkante der Latte. Und dann grätschte Torp nach einer Flanke in der Nachspielzeit den Ball über die Linie und den Arbeiterklub aus den West Midlands vermeintlich ins erste Cup-Finale seit dem einzigen Triumph 1987.

"Der größte FA-Cup-Moment, den es nie gab": Coventrys Victor Torp schießt das vermeintliche 4:3-Siegtor für den Zweitligisten, das schließlich aberkannt wurde. (Foto: Andrew Couldridge/Action Images via Reuters)

Coventrys Fans jubelten, schrien und weinten vor Glück. Aber Glück ist flüchtig, es hält selten lange an, im Leben wie im Fußball. In diesem Fall nur anderthalb Minuten. Dann nahm Schiedsrichter Robert Jones auf Intervention seines Videoassistenten das Tor wegen Abseits zurück. Die Entscheidung war derart knapp, dass sie wie Zufall erschien, als wäre eine Münze geworfen worden. Die Kameras erfassen 50 Bilder in der Sekunde, eins jede 0,02 Sekunden. Auf dem Bild, das entscheidend herangezogen worden ist, steht Vorlagengeber Wright im Abseits.

Die United-Spieler lagen bereits geschlagen auf dem Spielfeld, als sie plötzlich wie Totgeglaubte wieder auferstanden - und sich im Elfmeterschießen nach frühem Rückstand letztlich behaupteten (4:2). In der Neuauflage des Vorjahresfinales trifft Manchester United nun Ende Mai auf den Stadtnachbarn und Titelverteidiger City. Trotz der Niederlage sei er immens stolz auf seine Mannschaft, beteuerte Coventry-Coach Robins, sie habe die Stadt würdig vertreten. Er sei sicher, dass über das Match "noch lange" gesprochen werde - so, wie über den Klub selbst, der eine Runde zuvor Wolverhampton mit zwei Toren in der Nachspielzeit ausgeschaltet hatte.

Der Pokallauf des Zweitligisten ist eine wichtige Mahnung an die Entscheidungsträger der finanzgetriebenen Premier League, dass der englische Fußball nicht nur aus den 20 Erstligisten besteht. Soeben schaffte die FA auf Druck der Premier League die traditionsreichen Wiederholungsspiele bei Remis im Pokal ab, um die Spitzenspieler zu entlasten. Die zusätzlichen Duelle dienten vor allem unterklassigen Klubs als bisweilen existenzielle Zusatzeinnahmen. Sie sollen nun mit höheren Grundabgaben der ersten Liga entschädigt werden. Die Umstrukturierung des Spielplans demonstriert die Macht der Premier League und die zuletzt immer größer gewordene Kluft zwischen ihr und dem Rest der Ligapyramide. Doch solange die Duelle zwischen David und Goliath zumindest weiterexistieren, sind die Großklubs nicht davor gefeilt, manchmal wie kleine Vereine auszusehen.

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